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Europa Im Wald

„Mehr Wildnis wagen ist das Gebot der Stunde“

In Osteuropa gibt es noch echte Urwälder. Gerald Klamer, zuvor über viele Jahre Förster, wanderte monatelang durch die Karpaten, zeltete unter Bäumen und genoss die Stille. Vor wilden Tieren wie Bären oder Wölfen hatte er keine Angst – Sorgen macht er sich aber um die Wälder.
Reiseredakteurin
Rumänien: Unerwartete Begegnung mit einem jungen Braunbären in der Nähe des Dorfes Viscri Rumänien: Unerwartete Begegnung mit einem jungen Braunbären in der Nähe des Dorfes Viscri
Unerwartete Begegnung mit einem jungen Braunbären in der Nähe des rumänischen Dorfes Viscri
Quelle: Gerald Klamer

Gerald Klamer ist ein Ex-Förster, der 2021 seinen Job kündigte und mit einer 6000 Kilometer langen Wanderung auf den Zustand des deutschen Waldes aufmerksam gemacht hat. 2022 war er in den Urwäldern Rumäniens, Polens und der Slowakei unterwegs, sein Buch dazu, „Durchs wilde Herz der Karpaten“, erscheint jetzt.

WELT: Auf Ihren monatelangen Wanderungen nächtigten Sie, wann immer es ging, im Wald. Wo haben Sie am besten geträumt?

Gerald Klamer: Ich fühle mich am wohlsten und schlafe auch am besten in einem möglichst zivilisationsfernen Wald. Zwar gibt es auch bei uns noch Waldgebiete, in denen man Stille erleben kann, die sind allerdings eher die Ausnahme. Dagegen sind weite Teile der Karpaten sehr viel einsamer und ruhiger.

Gerald Klamer bei einer Pause im Semenic-Wald, der das größte zusammenhängende Urwaldgebiet in Rumänien bildet
Gerald Klamer bei einer Pause im Semenic-Wald, der das größte zusammenhängende Urwaldgebiet Rumäniens bildet
Quelle: Gerald Klamer

WELT: Die Bären und Wölfe, die dort leben, brachten Sie nicht um den Schlaf?

Klamer: Nein, denn ich weiß, dass von diesen Tieren für einen schlafenden Wanderer keine Gefahr ausgeht.

WELT: Können Sie wandernden Touristen mit Zelt die Karpaten als Reiseziel empfehlen?

Klamer: Auf jeden Fall! Wer dort mit Zelt autark für mehrere Tage unterwegs ist, findet an vielen Stellen noch wilde Natur, wie es sie bei uns nicht mehr gibt.

WELT: Und wie versorgt man sich dort?

Klamer: Wenn man bereit ist, Verpflegung für mehrere Tage im Rucksack zu transportieren, ist das überhaupt kein Problem.

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WELT: Ziel Ihrer Karpatenwanderung waren die letzten europäischen Urwälder. Was zeichnet diese Wälder aus, was macht sie zu „Ur“-Wäldern?

Klamer: Ein Urwald ist ein Wald, der seit jeher frei von direktem menschlichem Einfluss ist. Damit ist nicht der einzelne Wanderer gemeint, sondern es geht dabei in erster Linie um den Holzeinschlag. Dabei sind die Grenzen fließend. Es gibt sehr natürliche Wälder, in denen in der Vergangenheit einzelne Bäume gefällt wurden, die aber trotzdem alle Charakteristika eines Urwalds haben, wie großer Biomassevorrat, viel Totholz und ungestörte Böden.

Totholz ist ökologisch wertvoll. Hier sind Zunderschwämme an einem liegenden Stamm zu sehen
Totholz ist ökologisch wertvoll. Hier sind Zunderschwämme an einem liegenden Stamm zu sehen
Quelle: Gerald Klamer

WELT: Führt der Europaweg 8, der sich von Irland bis zur Ukraine zieht, durch diese Karpaten-Urwälder?

Klamer: Die letzten Urwälder liegen häufig in fast unzugänglichen Tälern. Dass ein Wanderweg die Urwälder tangiert, ist deshalb eher die Ausnahme. Was den E 8 angeht: Er führt zwar durch die Karpaten und teilweise bin ich ihm auch gefolgt. Allerdings ist der Weg oft nicht markiert, manche Abschnitte sind nicht mal als Weg zu erkennen.

WELT: Erkennt dann ein unbedarfter Karpatenwanderer überhaupt, wenn er einen Urwald betritt?

Klamer: Ja, auch ein Laie wird sofort bemerken, dass er sich in einem Urwald befindet. Es gibt in der Regel viel mehr alte und dicke Bäume, der Urwald ist im Schnitt sehr viel dichter als der Wirtschaftswald und vor allem gibt es wesentlich mehr Totholz, sowohl stehend als auch liegend. Außerdem ist die Vielfalt der Baumgestalten sehr viel größer, weil im Wirtschaftswald alle Bäume, die zu krumm sind oder viele Äste haben, bei den Durchforstungen gefällt werden, denn für die spätere Holzverwertung will man Bäume mit gutem Wuchs.

Gigantische Bergulme in einem Urwald im Piatra-Craiului-Nationalpark
Gigantische Bergulme in einem Urwald im Piatra-Craiului-Nationalpark
Quelle: Gerald Klamer
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WELT: Wäre es nicht besser, zum Schutz der letzten Urwälder Europas ein totales Betretungsverbot auszusprechen?

Klamer: Auf keinen Fall! Für die Wälder ist nicht der sich erholende Mensch ein Problem, sondern Holzernte-Maschine und Motorsäge. Abgesehen davon, dass ein Betretungsverbot naturschutzfachlich völlig unnötig wäre, würde es auch nicht gerade die Akzeptanz in der Bevölkerung für die Nationalparks steigern.

WELT: Die Europäische Union hat sich bis 2030 das Ziel gesetzt, 30 Prozent der Landes- und Meeresfläche unter rechtlich verbindlichen Schutz zu stellen, für ein Drittel davon, also zehn Prozent der gesamten Fläche, soll strikter Schutz gelten. Was heißt das konkret?

Klamer: Wie das genau ausgelegt werden soll, bleibt abzuwarten. Für mich ist jedenfalls klar, dass strikter Schutz im Wald keine Holznutzung bedeutet. Betretungsverbote dagegen halte ich für unnötig und kontraproduktiv.

WELT: Welches Karpatenland verfügt noch über die meisten Urwaldflächen?

Klamer: Rumänien. Das Land hat 27 Prozent bewaldete Landesfläche. Nach Schätzungen von Umweltaktivisten gibt es in Rumänien noch mindestens 500.000 Hektar Wald, der entweder noch nie oder nur sehr wenig bewirtschaftet wurde. Das ist 20-mal die Fläche des Nationalparks Bayerischer Wald.

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WELT: Ist Rumänien stärker bewaldet als Deutschland?

Klamer: Nein, Rumänien ist zu 27 Prozent und Deutschland zu 32 Prozent bewaldet.

WELT: Angesichts weiträumig abgestorbener Nadelwälder rund um den Brocken tobt derzeit ein heftiger Streit darüber, ob es von der Nationalparkverwaltung Harz richtig war, den Borkenkäfer im Harz nicht zu bekämpfen und den Wald sich selbst zu überlassen. Wie ist Ihre Meinung dazu?

Klamer: Nationalparks haben international die Aufgabe, eine unbeeinflusste Naturentwicklung zu ermöglichen. Dazu passen Borkenkäferbekämpfungsaktionen überhaupt nicht. Gerade in Deutschland haben wir doch die Erfahrung aus dem Nationalpark Bayerischer Wald, wo sich der Wald nach einer großen Borkenkäfermassenvermehrung in den 90er-Jahren grandios erholt hat. In Regionen wie Sauerland und Thüringer Wald gibt es keinen Nationalpark, aber auch dort sind weite Waldflächen borkenkäferbedingt abgestorben. Ich will damit sagen, das Problem sind nicht die Nationalparks, sondern die durch die Klimakrise verursachten Dürrejahre seit 2018.

WELT: Gibt es auch in den Karpaten Probleme mit Borkenkäfern?

Klamer: Ja, in der Slowakei gibt es viele Borkenkäferflächen. Dort hat man in den Nationalparks den Wald auf großen Flächen kahl geschlagen, mit der Folge, dass die Population der seltenen Auerhühner in nur zehn Jahren um 40 Prozent kleiner wurde. Eine Bürgerbewegung fordert deshalb einen anderen Umgang mit dem Borkenkäferproblem in den Nationalparks, und sie hat damit auch schon Erfolg.

Rumänien: Begegnung mit einem balzenden Auerhahn im Nationalpark Ceahlau
Begegnung mit einem balzenden Auerhahn in Rumäniens Nationalpark Ceahlau
Quelle: Gerald Klamer

WELT: Und was macht man jetzt anders in der Slowakei?

Klamer: Man strebt nun in den Nationalparks den internationalen Mindeststandard von 75 Prozent Kernflächen ohne jede Nutzung an. Das heißt, auf drei Viertel der Fläche dürfen keine Kahlschläge zur Borkenkäferbekämpfung mehr stattfinden. Wie wir ja in Deutschland erlebt haben, kommt man mit Kahlschlägen ohnehin in der Regel viel zu spät. Denn wurden die befallenen Bäume nicht rechtzeitig gefällt und aus dem Wald gebracht, hat sich die nächste Generation der Käfer schon fertig entwickelt und die noch gesunden Bäume befallen. Der Käfer ist immer einen Schritt voraus.

WELT: Mehr noch als mit den Borkenkäfern haben rumänische Förster mit dem illegalen Holzeinschlag zu kämpfen. Warum wird man diesem Problem nicht Herr?

Klamer: In den Medien wird das Problem häufig auf den illegalen Holzeinschlag verengt. Den gibt es natürlich tatsächlich. Allerdings spielt auch der rumänische Staatsforstbetrieb Romsilva eine unrühmliche Rolle. Der ist zwar für den Schutz der Nationalparks zuständig, dennoch finden dort Holzeinschläge statt. Sogar in Urwäldern, die unmittelbar an Flächen des Unesco-Weltnaturerbes angrenzen, wird noch gefällt. Das verstößt sowohl gegen EU-Recht als auch gegen das rumänische Waldrecht. Das Land hat eigentlich ein sehr gutes Waldgesetz.

WELT: Doch die Praxis sieht anders aus?

Klamer: Ja, aber glücklicherweise gibt es in Rumänien Nichtregierungsorganisationen (NGO), die sich auch unter Lebensgefahr für den Wald einsetzen und Erfolge erzielen. Den wirksamsten Schlüssel zur Verbesserung der Waldsituation in Rumänien hat allerdings die EU, wenn sie die eigenen Direktiven wirksam umsetzt. Dass das möglich ist, zeigt sich im Umfeld des polnischen Bialowieza-Nationalparks. Dort wurden die Holzeinschläge beendet, nachdem die EU hohe Strafzahlungen verhängt hatte.

WELT: Ich las, dass rumänische Schäfer aus Brüssel Bonuszahlungen erhalten, weil sie mit ihrer Weidearbeit alte Kulturlandschaften erhalten. Offenbar ist die EU schon sehr rührig.

Klamer: In der EU herrscht der Irrglaube, dass die durch Roden des Waldes und nachfolgende Viehbeweidung entstandenen Kulturlandschaften bewahrt werden müssen. Doch aus Klimaschutzgesichtspunkten und um Kosten zu sparen, wäre es sinnvoll, diese Subventionierung einzustellen. Dann würde der Wald schnell zurückkommen, was ihm wegen der Beweidung zurzeit nicht gelingt. Das gilt nicht nur für Rumänien, sondern auch für die Alpen. Mehr Wildnis wagen ist das Gebot der Stunde!

Kaskaden aus Eis im Sucha-Tal der Hohen Tatra
Kaskaden aus Eis im Sucha-Tal der Hohen Tatra
Quelle: Gerald Klamer

WELT: Das dürfte die Forstwirtschaft wahrscheinlich etwas anders sehen.

Klamer: Es ist für mich völlig klar, dass der Großteil unserer Wälder bewirtschaftet werden muss, da Holz ein wichtiger Rohstoff ist, der auch nachhaltig geerntet werden kann. Doch selbst ein noch so naturnah bewirtschafteter Wald kann nicht alle Eigenschaften von Naturwäldern abbilden, zum Beispiel was den Holzvorrat – das ist die Menge an Holz pro Hektar –, oder die Totholzmenge angeht.

Nicht bewirtschaftete Wälder sind für Biodiversität und Klimaschutz sehr wichtig. Deswegen brauchen wir auf größerer Fläche völlig unbewirtschaftete Wälder. Ich halte es für richtig und wichtig, 15 Prozent der Waldfläche aus der forstwirtschaftlichen Nutzung zu nehmen, wie das unter anderem der NABU fordert.

WELT: Wo in Europa haben Sie sich als Wanderer bisher am wohlsten gefühlt?

Klamer: Besonders schön finde ich Bialowieza an der polnisch-weißrussischen Grenze und Izvoraele Nerei im Semenic-Cheile-Carasului-Nationalpark Rumäniens.

WELT: Haben Sie dort auch gezeltet?

Klamer: Ja, ich habe fast immer gezeltet, was auch an den meisten Orten erlaubt ist.

Gerald Klamer, geboren 1967, war mehr als 25 Jahre Förster in Hessen. Neben dem Wald gilt seine Leidenschaft dem Wandern, am liebsten in Wildnisgebieten überall auf der Welt. Er unternahm zahlreiche mehrmonatige Touren, unter anderem durch den Himalaja, die Anden, die Rocky Mountains, die Alpen und Skandinavien. Auf diesem Erfahrungsschatz aufbauend, wanderte er 2021 fast 6000 Kilometer durch Deutschland, wovon er in seinem Buch „Der Waldwanderer“ berichtet. Auf seinen Blogs „Waldbegeisterung“ und „Trekking wild“ erzählt Klamer von seinen Naturbeobachtungen und Reisen.

Das neue Buch von Gerald Klamer „Durchs wilde Herz der Karpaten. Meine Wanderung in den letzten großen Urwäldern Osteuropas“ erscheint bei Malik, es hat 272 Seiten und kostet 18 Euro.

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