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Handwerk

„Heizung, Sanitär und Klima stehen bei den Ausbildungsberufen weiterhin ganz oben“

Autorenprofilbild von Olaf Preuß
Von Olaf PreußWirtschaftsreporter
Veröffentlicht am 29.04.2024Lesedauer: 8 Minuten
Hjalmar Stemmann, Präsident der Handwerkskammer Hamburg, in seinem Unternehmen in Hamburg-Lokstedt
Hjalmar Stemmann, Präsident der Handwerkskammer Hamburg, in seinem Unternehmen in Hamburg-LokstedtQuelle: Bertold Fabricius

Öffentlich finanzierte Prämien für Schüler-Praktika, Wohnheime für Auszubildende auch neben Gewerbegebieten, höhere Meisterprämien – die Handwerkskammer Hamburg, sagt deren Präsident Hjalmar Stemman, will mehr Möglichkeiten nutzen, um Menschen für das Handwerk zu begeistern.

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Mit nur 30 Mitarbeitern fertigt Hjalmar Stemmann, 60, in seinen Unternehmen Stemmann & Leisner und Steco Dentaltechnik wie etwa Zahnersatz und Gesichtsprothesen, zudem Medizinprodukte für dentale Implantate, etwa Bohrhülsen aus Titan. Aus Hamburg-Lokstedt vermarktet Stemmann seine Erzeugnisse deutschland- und weltweit – ein Beispiel für die Qualität des Hamburger Handwerks. Seit 2019 vertritt Stemmann als Präsident der Handwerkskammer Hamburg die Interessen von rund 15.000 Handwerksbetrieben mit insgesamt 105.000 Beschäftigten. WELT sagte er, wie die Kammer dem Nachwuchs- und Fachkräftemangel begegnet.

WELT: Herr Stemmann, die Zahl der neuen Ausbildungsverträge im Hamburger Handwerk ist 2023 im Vergleich mit dem Vorjahr um 4,6 Prozent gestiegen, auf 2291. Andere wichtige Kennzahlen wie der Gesamtbestand der Ausbildungsverträge und die Zahl der Gesellen- und der Meisterprüfungen sanken hingegen deutlich. Alarmiert Sie das?

Hjalmar Stemmann: Nein, aber wir sind aufmerksam. Dazu muss man sehen, dass die Zahl der Ausbildungsverträge im Hamburger Handwerk von 2017 bis 2019, bis zum Jahr direkt vor dem Beginn der Pandemie, sehr hoch war. Was wir in den Zahlen des vergangenen Jahres sehen, spiegelt einerseits den in der Regel dreijährigen Zyklus der – in diesem Fall besonders vielen – Ausbildungsverhältnisse wider, aber auch den starken Rückgang neuer Ausbildungsverträge in den Jahren der Pandemie von 2020 bis 2022. Wir knüpfen jetzt an die Zahlen von 2015 und 2016 an und hoffen, dass wir dieses Niveau wieder kontinuierlich steigern können.

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WELT: Steht das Handwerk in Hamburg bei der Suche nach Auszubildenden besser da als andere Teile der Wirtschaft, mit Blick auf den demografischen Wandel?

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Stemmann: Das denke ich schon. Das Handwerk hat in einigen Gewerken einen gewissen Vorsprung, obgleich wir deutlich stärker wachsen müssten, um den Bedarf zu decken. Bei den neuen Ausbildungsverträgen bräuchten wir längst wieder die besonders starke Zahl des Jahres 2019, seinerzeit waren es 2516. Der Kuchen insgesamt wird sozusagen kleiner und unser Kuchenstück wird sukzessive etwas größer, wenn wir die Gesamtzahl der für eine Ausbildung verfügbaren jungen Menschen nehmen.

WELT: Offenbar genießt das Handwerk in Hamburg bei jungen Menschen, die über ihren Berufsweg nachdenken, weiterhin sehr hohes Ansehen, so wie schon vor der Pandemie.

Stemmann: Das liegt nicht zuletzt an der bundesweiten Imagekampagne des Handwerks. In Hamburg docken wir uns daran an und ergänzen sie um spezielle Hamburger Motive, zum Beispiel mit Werbung einzelner Innungen und Gewerke auf Bussen der Hochbahn – vor allem aber online. Wir nehmen viel Geld – die Mitgliedsbeiträge unserer Unternehmen – in die Hand, um noch mehr junge Menschen anzusprechen und um den Kontakt zu den Lehrern in den allgemeinbildenden Schulen zu intensivieren. In den Flächenländern sind die Kontakte von Kreishandwerkerschaften und von Handwerksbetrieben in die Schulen traditionell intensiver. Hinzu kommt, dass Hamburg eine besonders große Anzahl und Bandbreite attraktiver – auch sehr großer – Unternehmen aus vielen Branchen hat, die mit dem Handwerk in Konkurrenz um Auszubildende stehen. Da müssen wir eine Schippe zusätzlich drauflegen, und das zeigt auch Erfolg. Unsere Aktion mit dem Riesenrad auf dem Hamburger Dom für 9. Klassen – zwei Runden zum Beratungsgespräch mit einem Ausbilder – unsere Handwerkswelten in der Eisarena oder auch das Azubi- und Praktikums-Speed-Dating bringen das Handwerk in Kontakt mit Tausenden jungen Menschen.

WELT: Was finden junge Menschen nach Ihrer Kenntnis an einer Ausbildung im Handwerk attraktiv, und was finden sie schwierig?

Stemmann: Wir sprechen zum Beispiel junge Menschen an, die genau das suchen – körperlich draußen arbeiten, sei es als Solarmonteur, Dachdeckerin oder als Zimmerleute. Im Handwerk ist Homeoffice bis auf ganz wenige Ausnahmen nicht möglich. Ob es jedem Bäckerlehrling Spaß bringt, morgens um vier Uhr in der Backstube zu stehen, das weiß ich nicht. Aber die Sinnstiftung, dass man abends das sieht, was man morgens begonnen hat, die ist ein ganz besonderes Merkmal des Handwerks. Das erfüllt viele junge Menschen mit großer Freude, quer durch die Gewerke. Manch junge Frau oder junger Mann steigt deshalb auch von einem Studium um auf eine handwerkliche Ausbildung. Mir fällt zum Beispiel die Physikstudentin ein, die dann eine Ausbildung zur Segelmacherin absolvierte.

WELT: Welches Potenzial bieten Automatisierung und Digitalisierung im Handwerk, um künftig mit weniger Auszubildenden und insgesamt Fachkräften auszukommen?

Stemmann: Ich setze große Hoffnungen darauf, dass die Digitalisierung auch im Handwerk weiter an Fahrt aufnimmt, um den demografischen Wandel zu bewältigen. Es geht allerdings nicht schnell genug, um den Mangel an Arbeits- und Fachkräften auszugleichen. An etlichen Stellen können Handwerksbetriebe durch Innovation, Digitalisierung und Automatisierung entlastet werden. Der Dachdecker, der früher mit dem Zollstock das Dach vermessen hat, kann das heutzutage mithilfe einer Drohne tun. Das geht schneller, ist präziser und körperlich weniger anstrengend. Meine eigene Branche wiederum, die Dentaltechnik, gehört bei der Digitalisierung und dem Einsatz von dreidimensionalen Technologien seit langer Zeit zu den Pionieren.

WELT: Erreicht das Handwerk in Hamburg weiterhin überdurchschnittlich – im Bundesvergleich – viele Abiturientinnen und Abiturienten, die eine Ausbildung beginnen?

Stemmann: Ja, weiterhin starten im Hamburger Handwerk etwa 22 bis 23 Prozent eines Jahrgangs ihre Ausbildung mit Abitur. Wir sind damit bundesweit ganz vorn. Das liegt allerdings auch daran, dass in Hamburg etwa 55 Prozent aller Schülerinnen und Schüler die allgemeinbildenden Schulen mit dem Abitur abschließen, weit mehr als etwa in den Flächenländern.

WELT: Welche Gewerke sind bei Auszubildenden besonders beliebt, welche weniger?

Stemmann: Heizung, Sanitär und Klima stehen weiterhin ganz oben. Das hängt sicher auch damit zusammen, dass Auszubildende und künftige Fachkräfte hier unmittelbar einen Beitrag zum Klimaschutz leisten können. Auch Kraftfahrzeug-Mechatronik und Elektronik mit inzwischen fünf unterschiedlichen Berufsbildern sind vorn mit dabei. Das Friseurhandwerk ist längst kein mehr oder weniger ausschließlicher Frauenberuf mehr, sondern, vor allem durch Männer mit Migrationshintergrund, viel stärker gemischt als früher und weiterhin sehr beliebt. Ausbildungen zum Maler, Lackierer und Tischler, Augenoptiker und Dachdecker, auch zum Informationselektroniker sind sehr gefragt. Schwieriger ist es, Fachverkäuferinnen und -verkäufer für Fleischereien und für Bäckereien zu finden. Bestimmte Gewerke wiederum wie Segelmacher oder Uhrmacher haben schon deshalb nur sehr wenige Auszubildende, weil deren Märkte heutzutage insgesamt sehr klein sind – allerdings sind auch diese Berufe durchaus beliebt.

WELT: Die Handwerkskammer Hamburg fordert von der Hamburger Politik eine Praktikumsprämie für jeweils maximal vier Wochen, um mehr junge Menschen in freiwilligen Praktika an das Handwerk heranzuführen. Woher stammt diese Idee?

Stemmann: Sachsen-Anhalt macht damit seit 2020 sehr gute Erfahrungen mit einer Praktikumsprämie von 120 Euro je Woche für maximal vier Wochen. Mehr als 30 Prozent der Praktikantinnen und Praktikanten starten anschließend eine Ausbildung in einem Handwerksberuf. Die gesamte Maßnahme wird fast vollständig vom dortigen Wirtschaftsministerium finanziert. Solch ein Programm – getragen von der Wirtschafts- oder auch von der für den Arbeitsmarkt zuständigen Sozialbehörde – wäre auch für Hamburg sehr sinnvoll.

WELT: Sind 120 Euro in der Woche ein Anreiz für junge Menschen, ein Praktikum zu absolvieren?

Stemmann: Das Geld ist sicher ein zusätzlicher Impuls, um ein Praktikum zu absolvieren. Ausschlaggebend für die Entscheidung zu einer handwerklichen Ausbildung ist das praktische Erleben, wenn man einige Wochen in einem Handwerksbetrieb gearbeitet hat.

WELT: Die sogenannte Meisterprämie soll aus Sicht der Handwerkskammer von in Hamburg derzeit 1000 Euro auf 4000 Euro aufgestockt werden. Beeinflussen diese wenigen Tausend Euro tatsächlich die Lebensentscheidung einer Frau oder eines Mannes, in einem bestimmten Handwerk die Meisterlaufbahn einzuschlagen?

Stemmann: Diese Summe beeinflusst vor allem die Entscheidung darüber, wo sich eine Gesellin oder ein Geselle zur Meisterin oder zum Meister weiterqualifiziert. Einige Nachbarländer zahlen längst mehr. Wenn ich aber in Lüneburg 4000 Euro bekomme und 30 Kilometer entfernt in Harburg 1000 Euro, lasse ich mich später vielleicht in Lüneburg nieder. Denn jede Person muss ihre Meisterprüfung in Deutschland selbst bezahlen, die Gesamtkosten einer Meisterausbildung liegen durchschnittlich bei etwa 12.000 Euro. Für einen jungen Menschen ist das sehr viel Geld. Trotz möglichen Zuschüssen über das Aufstiegs-BAföG ist eine große Ungerechtigkeit damit verbunden, denn eine universitäre Ausbildung und Prüfung kostet die Absolventin oder den Absolventen nichts.

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WELT: Wohnheime für Auszubildende sind eine weitere Forderung der Handwerkskammer Hamburg an die Politik. Die Hamburger Sparkasse realisiert derzeit ein viel beachtetes Projekt. Aber die Baukosten sind in den vergangenen Jahren drastisch gestiegen.

Stemmann: Hamburg kann das vor allem über die Vergabe günstiger öffentlicher Grundstücke positiv beeinflussen. Solche Flächen vergibt die Stadt nach einem entsprechenden Beschluss der Bürgerschaft nur noch für 99 Jahre in Erbpacht. Aber ein deutlich abgesenkter Erbpacht-Zins für ein Azubi-Wohnheim würde einem potenziellen Bauträger für ein solches Projekt sehr helfen. Das wäre zwar eine Form von Subvention. Aber die kommt ja einer unmittelbar bedürftigen Gruppe zugute, und nach drei Jahren zieht die Auszubildende und der Auszubildende wieder aus und der nächste Jahrgang belegt die Wohnung. Volkswirtschaftlich wäre das jedenfalls sehr gut investiertes Kapital. Auch gelockerte Bau- und Wohnvorschriften würden helfen, zum Beispiel, indem man Azubi-Wohnheime generell auch am Rand von Gewerbegebieten genehmigt. In Hamburg zum Beispiel hat die Stiftung Azubiwerk eine solche Anlage auf eine neu errichtete Feuerwache gebaut.

WELT: Was kann der Bund eigentlich tun, um mehr Menschen ins Handwerk zu bringen?

Stemmann: Zum Beispiel kann der Bund die Meisterprüfung kostenfrei stellen, das würde einen erheblichen Schub auslösen. Und er kann – im Rahmen des neuen Berufsvalidierungs- und -digitalisierungsgesetzes – Übergänge in den Beruf und in den Arbeitsmarkt erleichtern – zum Beispiel dadurch, Menschen von einem bestimmten Alter an ohne einen Berufsabschluss nach einer ausreichenden Zeit nachgewiesener praktischer Tätigkeit mit einer Ausbildung gleichzustellen. Natürlich ist das eine Gratwanderung, weil davon auf keinen Fall die Botschaft an junge Menschen ausgehen darf, dass sie eigentlich keine Ausbildung brauchen. Es gibt aber ein riesiges Potenzial von Menschen ab etwa 30 Jahren ohne eine Berufsausbildung, deren Präsenz auf dem Arbeitsmarkt man durch Validierungsverfahren stärken kann.