Henry Every (auch Avery; 1659–nach 1699) war ein Name, der seinen Zeitgenossen das Blut in den Adern gefrieren ließ. Denn er war einer der erfolgreichsten Piraten seiner Zeit, der keine Skrupel in der Wahl seiner Mittel und seiner Beute hatte. Sein berühmtestes Opfer war denn auch ein muslimisches Pilgerschiff, das dem Großmogul, dem Kaiser von Indien, gehörte. Die Beute soll phänomenale 600.000 Pfund betragen haben sowie die Frauen, die das Entern des Schiffs und die folgende Gewaltorgie überlebten.
Weil Every im Gegensatz zu vielen seiner Kollegen nicht gefasst und gehenkt wurde, sondern im Geraune der Folklore verschwand, beschäftigt er bis heute Historiker und Schatzsucher. „Bei dem einen endete er als englischer Landedelmann, bei dem anderen als versoffener Bettler in der Gosse“, schreibt der Flensburger Historiker Robert Bohn. Nun scheint der amerikanische Geschichtsforscher Jim Bailey ein dunkles Kapitel in Everys Lebensgeschichte entschlüsselt zu haben. Danach soll sich der Pirat für einige Zeit in den englischen Kolonien in Nordamerika versteckt haben, wie neue Funde belegen.
Baileys wichtigste Beweisstücke sind 27 arabische Münzen, die fast alle in Neuengland gefunden wurden. Die erste entdeckte der Hobby-Historiker 2014 mit seiner Sonde in Middletown (Rhode Island). Untersuchungen ergaben, dass sie 1693 im Jemen geprägt wurde. Auch alle weiteren Stücke, die inzwischen ans Licht kamen, entstanden nicht nach 1695, dem Jahr, in dem Every am 7. September das Schiff „Gang-i-Sawaii“ aufbrachte, eine riesige Dau mit mehr als 500 Passagieren an Bord.
Zu diesem Zeitpunkt hatte sich der Sohn eines Hafenwirts aus dem südenglischen Plymouth vom Schiffsjungen längst zum Kapitän eines Kaperfahrers hochgearbeitet. Sein wichtigstes Werkzeug dabei waren neben seiner Cleverness und nautischen Begabung Skrupellosigkeit und Brutalität. Selbst im menschenverachtenden Sklavenhandel berichtet eine Quelle von entsetzten Afrikanern, weil „ihnen übel mitgespielt worden ist von solchen Haudegen wie Long Ben“, wie Every auch genannt wurde. Der machte daneben Jagd auf niederländische, englische oder auch dänische Kauffahrer, die reich beladen vom Indischen Ozean aus nach Europa segelten.
Besonders begehrt bei den Piraten waren jedoch die Schiffe, die muslimische Pilger nach Mekka transportierten. Denn diese Segler hatten nicht nur große Schätze an Bord, sondern auch Frauen. „Viele Berichte Überlebender schildern die brutalen Vergewaltigungsorgien, die sich auf diesen Schiffen abspielten, wenn sie in die Gewalt hemmungsloser Seeräuber fielen“, schreibt Bohn.
Für Everys Renomee in seine Branche spricht, dass er eine Flotte von sechs Schiffen versammeln konnte, um Jagd auf Pilgerschiffe zu machen. Seine „Fancy“ war eine als Schnellsegler optimierte Fregatte, die über 42 Kanonen und 160 Mann Besatzung verfügte. Obwohl die meisten anderen Piratenkapitäne zurückgeblieben waren, hatte Every keine Skrupel, die wesentlich größere und stärker bewaffnete „Gang-i-Sawaii“ anzugreifen, die sich auf dem Rückweg von Mekka nach Surat befand.
Dass das riesige Schiff dem Großmogul Aurangzeb gehörte, wird Every und seine Männer noch motiviert haben. Bereits die erste Salve der „Fancy“ schaltete einige der 62 Kanonen der „Gang-i-Sawaii“ aus. Ihr Kapitän verbarrikadierte sich in seiner Kajüte, sodass seinen Leuten, obwohl deutlich in der Überzahl, die ordnende Führung fehlte. Der Mann soll sich schließlich unter den mitreisenden Frauen versteckt haben, was ihm allerdings wenig genützt haben dürfte.
Denn die Passagiere „waren nach der Kaperung den entsetzlichsten Folterungen ausgesetzt, damit sie die Verstecke der mitgeführten Kostbarkeiten verrieten“, schreibt Bohn. Die überlebenden Frauen, unter ihnen eine Verwandte Aurangzebs, wurden von den Piraten verschleppt und nie wiedergesehen. Die Männer berichteten nach ihrer Ankunft in Surat von den Gräueltaten Everys.
Der hatte sich inzwischen von seinen Kumpanen abgesetzt und Zuflucht auf den Bahamas gesucht. So zumindest die bisher übliche Annahme. Bailey hält dagegen: „Every ist auf keinen Fall auf den Bahamas geblieben, um am Strand zu sitzen und an seiner Bräune zu arbeiten, während er auf seine Gefangennahme wartete.“ Denn inzwischen hatte England eine weltweite Fahndung nach den Piraten eingeleitet.
Der erzürnte Großmogul blockierte nämlich mit Waffengewalt die Stützpunkte der East India Company in Indien. Deren Präsidium machte den Verlust von 300.000 Pfund bei ihrer Versicherung geltend, die übrigen 300.000 beglichen die Geschäftsleute aus der eigenen Kasse und versprachen zudem, Every und seinen Männern mit allen Mitteln nachzusetzen. König Wilhelm III. sah sich bemüßigt, ein hohes Kopfgeld auszuloben. Daher gelang es Every nicht mehr, von einem englischen Gouverneur in der Karibik – gegen eine angemessene Summe, versteht sich – einen Gnadenerlass zu erhalten.
Bailey verweist auf historische Zeugnisse, nach denen ein Schiff namens „Sea Flower“ im Jahr 1696 in Newport (Rhode Island) anlegte. Überliefert ist auch die Aussage von zwei Gefolgsleuten Everys, die später gefasst und aufgehängt wurden, ihr Chef sei mit diesem Schiff von den Bahamas geflohen. Mitgenommen habe er seinen Schatz, in dem sich viele arabische Münzen befunden haben müssen. Ihr Fund in Neuengland könnte ein Beleg dafür sein, dass der Pirat sich unter der Nase der englischen Regierung vor ihren Jägern versteckt hielt.
Vielleicht begann er dort sogar ein bürgerliches Leben. Das würde allerdings der Version widersprechen, nach der er mit wenigen Gefolgsleuten im Juni 1696 bis nach Irland gelangte, wo er sich allerdings umgehend von ihnen trennte. Während diese wegen ihres zur Schau getragenen Reichtums bald aufflogen, wurde Every nicht mehr gesehen. Was mit ihm geschah, will Bailey nun erforschen.
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